SEMINAR
Was tun Briefe in Filmen. Infrastrukturen des Postalischen in Filmen zur Migration
Hier finden Sie, auch als Vorbereitung, Zitate aus drei Texten, die in der ersten Sitzung des Seminars angesprochen werden.
1. Aus:
Pedro Costa, Eine geschlossene Tür, die uns zum Fragen einlädt, in Malte Hagener / Tina Kaiser (Hg.), Filmkonzepte Pedro Costa, München, 2006, S.82f
… Damit will ich andeuten, was meiner Meinung nach das Kino wirklich gut kann, was es als hauptsächliche Funktion hat, denn diese ist nicht zuallererst künstlerisch oder ästhetisch. Für mich besteht die Hauptfunktion des Kinos darin, uns darauf aufmerksam zu machen, dass etwas nicht stimmt. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm. Als das erste Mal Filme zu sehen waren und gefilmt wurde, zeigte das Kino etwas, das nicht stimmte. Der erste Film zeigte eine Fabrik und die Menschen, die die Fabrik verließen. Es ähnelte der Fotografie, die auch ganz nah an unserer Welt war. Es ist, wie wenn wir ein Foto aufnehmen, um einen Beweis für etwas zu haben, das wir sehen, das nicht in unserem Kopf ist, etwas vor uns, aus der Realität. Die erste Fotografie, die der Welt in Zeitungen gezeigt wurde, war jene der Leichen der Pariser Kommune, sie zeigte die toten Körper der Kommunarden. Im allerersten öffentlich gezeigten Film verlassen also Menschen ein Gefängnis, und auf dem allerersten in einer Zeitung veröffentlichten Foto, sind tote Menschen zu sehen, die die Welt verändern wollten. Wenn wir davon sprechen, dass das Kino von dort ausgeht – beziehungsweise die Fotografie, der Dokumentarfilm oder der Spielfilm -, dann sprechen wir von seiner sehr realistischen Grundlage. Es ist etwas historisch Gegebenes, dass es sich beim ersten Film und beim ersten Foto um schreckliche Dinge handelt. Es sind keine Liebesgeschichten, sondern Ängste. Jemand verwendete eine Maschine, um zu reflektieren, um zu denken und Fragen zu stellen. In dieser Geste, in diesem Wunsch - sei es die Geste, einen Film oder ein Foto oder heutzutage ein Video zu machen – liegt für mich etwas sehr Starkes, etwas, das einem sagt: „Vergiss niemals!“ Natürlich ist die erste Geste, der erste Film, das erste Foto, die erste Liebe immer die stärkste, immer diejenige, die wir nicht vergewssen.
Das Problem kam später, denn nach dem ersten Film, nach La Sortie des Usines Lumière (Arbeiter verlassen die Fabrik, 1895), gab es einen zweiten Film von den Lumière-Brüdern, in dem wieder Arbeiter eine Fabrik verlassen. Hier verschlechterten sich die Dinge, hier lief etwas falsch, wurde etwas kompliziert, weil die Lumières nicht mit dem Auftreten der Arbeiter zufrieden waren, die aus ihrer Fabrik kamen (ihrer eigenen). Sie sagten zu den Arbeitern: "Versucht ein bisschen natürlicher zu sein!" Sie leiteten die Arbeiter an. So geriet die erste Geste in Vergessenheit; der erste Akt der Liebe – es ist ein Akt der Liebe, aber auch der Kritik – ist sehr mächtig, wie auch ein erster Blick sehr mächtig ist. Also leiteten sie die Arbeiter an und sagten: „Du gehst nach links, geh nicht nach rechts ... Du, du kannst etwas lächeln und du auch ... Du, du geh mit deiner Frau dahin ...“ Und so gab es die Mise en Scène. Damit war der Spielfilm geboren, weil der Chef einem Angestellten, einem Arbeiter Anweisungen gab. Es ist klar, dass das erste Drehbuch – ein Buch ist immer ein Gesetzbuch, ein Regelwerk –, das erste Regelwerk für das Kino eine produktionstechnische Drehfassung war. In Büchern zu Komödien, stand, wieviel es für eine Schauspielerin kostete, ein junges Mädchen zu spielen, wieviel es für einen Schauspieler kostete, einen Liebhaber zu spielen, und wieviel es für einen Schauspieler kostete, den Vater zu spielen, d.h. was wieviel kostete. So waren die ersten Drehbücher.
Zur gleichen Zeit oder auch etwas später wurden auch Filme
ohne Drehbücher gemacht, und seltsamerweise existieren diese Filme heute noch
in den Filmmuseen. Ich spreche von erotischen Filmen. Es ist so, als ob die
ersten Spielfilme (so gut, wie wir sie verstehen) mit Buch, einer
Liebesgeschichte und sprechenden Figuren romantische Komödien waren. Wir
könnten auch sagen, dass die ersten Filme ohne Drehbuch, also Dokumentarfilme, grob
gesagt Amateurfilme sind, geheim und pornografisch. …
2. Aus
Hamid Naficy, Epistolarity and Epistolary Narratives, in derselbe: An
Accented Cinema, Exilic and Diasporic Filmmaking, Princeton University
Press, 2001, S. 101 (Übersetzung: Rainer Bellenbaum)
... die Briefkommunikation umfasst die Handlungen und Ereignisse des Sendens und Empfangens, des Verlierens und Findens sowie des Schreibens und Lesens von Briefen. Sie umfasst auch die Handlungen, Ereignisse und Institutionen, die solche Handlungen und Ereignisse erleichtern, behindern, hemmen oder verbieten.... Filme, die durch Briefformen akzentuiert sind, lassen sich in drei Haupttypen unterteilen: Filmbriefe, Filme mit telefonischen Nachrichten und Brieffilme. In Filmbriefen werden Briefe und Handlungen des Lesens und Schreibens von Briefen durch diegetische Figuren dargestellt. Telefonische Briefe beschreiben Telefone und Anrufbeantworter und die Nutzung dieser Geräte durch diegetische Personen. Brieffilme hingegen haben selbst die Form von Episoden, die an jemanden innerhalb oder außerhalb der Diegese gerichtet sind, und sie müssen nicht notwendigerweise das Briefmedium enthalten. ...
(Original englisch:
... epistolarity involves the acts and events of sending and receiving, losing and finding, and writing and reading letters. It also involves the acts, events, and institutions that facilitate, hinder, inhibit, or prohibit such acts and events....
Epistolarity is a chief contributor to the accented cinema's style. Accented epistolary films are divided into three main types: film-letters, telephonic epistles, and letter-films. Film-letters inscribe letters and acts of reading and writ- ing of letters by diegetic characters. Likewise, telephonic epistles inscribe telephones and answering machines and the use of these devices by diegetic characters. Letter-films, on the other hand, are themselves in the form of epis- tles addressed to someone either inside or outside the diegesis, and they do not necessarily inscribe the epistolary media)
3. Aus
Dominic Lash,
„Homes for Displaced Figures: Pedro Costa’s Colossal Youth“, in ders, The
Cinema of Disorientation, Inviting Confusions, Edinburgh, 2020 (Übersetzung: Rainer Bellenbaum)
Costa hat häufig davon gesprochen, dass er Fontainhas (Vorort von Lissabon, Anmerkung RB) kennenlernte, als ihn Einwohner der Kapverden, die er während der Dreharbeiten zu Casa de Lava (1995) traf, baten, Briefe an ihre Verwandten in Lissabon zu überbringen. Aber selbst wenn wir Costas Bericht über seinen Prozess nicht hätten, würden der Inhalt der Monologe und die Überzeugung, mit der die nicht-professionellen Darsteller sie vortragen, darauf hindeuten, dass sie zumindest an ihrer Komposition beteiligt waren......
(Englisches Original:
Costa has frequently spoken of the way that his introduction to Fontainhas came when Cape Verdeans he met during the filming of Casa de Lava (1995) asked him to take letters back to their relatives in Lisbon. But even if we did not have Costa’s account of his process, the content of the monologues and the conviction with which the non-professional performers deliver them would have suggested that they had a hand, at least, in their composition...)
- Teacher: Rainer Bellenbaum